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Titel
Rheinwissen. Die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt als Wissensregime, 1817–1880


Autor(en)
Bennemann, Nils
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
314 S., 26 teilw. farb. Karten
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Meyer, Kartographie und Visuelle Kommunikation (KVK), Leibniz-Institut für Länderkunde Leipzig

Die zu besprechende Monographie mit dem Titel „Rheinwissen. Die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt als Wissensregime, 1817–1880“, entstand aus der Dissertationsschrift Nils Bennemanns, Historiker an der Universität Duisburg-Essen, der 2019 bei Ute Schneider und Johannes Paulmann promoviert wurde.

Bennemann verfolgt in dem Buch gleich mehrere Anliegen: Zum einen soll die transnationale Zusammenarbeit der Anliegerstaaten des Rheins innerhalb der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt (ZKR) beleuchtet werden. Die ZKR war ein Ergebnis des Wiener Kongresses und sollte die freie Handelsschifffahrt auf dem Rhein ermöglichen. Ihr gehörten bei der Gründung sieben Staaten an: das Königreich Frankreich, das Großherzogtum Baden, das Königreich Bayern, das Großherzogtum Hessen, das Herzogtum Nassau, das Königreich Preußen und das Königreich der Niederlande. Der Fokus auf dieser Ebene der Arbeit liegt auf den Aushandlungsprozessen zwischen den Mitgliedsstaaten im Rahmen der ZKR als „einer der ältesten internationalen Organisationen“ (S. 7 f.) und hier im Besonderen auf dem Verständigungsprozess in Bezug auf gültiges Wissen über den Rhein – dessen Ergebnis Bennemann als ein spezifisches Wissensregime fasst, welches er als „Rheinwissen“ bezeichnet.

Der Untersuchungszeitraum ergibt sich durch die Gründung der ZKR im Jahre 1817 und der Fertigstellung eines Kartenwerkes zur Darstellung des Rheins im Großherzogtum Hessen im Jahre 1880, das „den Schlussstein für die durchgehend einheitliche kartographische Perspektive des Rheins von Basel bis zur niederländischen Grenze“ (S. 240) bildete. Hier wird die zweite Ebene der Studie sichtbar, die zugleich deren spezifischen Zugang in Bezug auf das „Rheinwissen“ verdeutlicht: die Fluss- oder Stromkartographie des Rheins. Denn für eine geregelte und reibungslose Handelsschifffahrt waren großmaßstäbige hydrographische Karten unabdingbar.

Der Aufnahme- und Herstellungsprozess der Karten zog sich in den verschiedenen Anliegerstaaten jedoch bis 1880 hin und durchlief verschiedene Phasen, die sich durch unterschiedliche Ansprüche an und Praktiken von Objektivierung auszeichneten. Bennemann greift hier auf die Studien von Peter Galison und Lorraine Daston zurück, die sich der Historisierung wissenschaftlicher Objektivität und der Beschreibung ihrer verschiedenen Ausprägung widmen.1 Bennemann überträgt diesen Ansatz in den Kontext der Genese des „Rheinwissens“ und postuliert für den Untersuchungszeitraum drei aufeinanderfolgende beziehungsweise ineinandergreifende Formen der Objektivierung von Wissen, die er im Rahmen von Fallstudien eingehend beschreibt: „Aperspektivierung“, (mechanische) Objektivität und Standardisierung.

„Aperspektivierung“ beschreibt eine Phase der ZKR von den 1830er- bis zur Mitte der 1840er-Jahre, als das Handeln der ZKR primär darauf ausgerichtet war, eine einheitliche Längenfestlegung des Rheins zu erzielen. Nachdem Preußen mit dem Vorschlag einer kompletten Neuaufnahme des Rheins – vornehmlich aus Kostengründen – gescheitert war, konzentrierte sich die Kommission in dieser Zeit darauf, das in den Einzelstaaten vorhandene, teils stark voneinander abweichende Kartenmaterial sowie unterschiedliche Messverfahren kompatibel zu machen und den Austausch von Wissensbeständen zu ermöglichen. Durch eine „generelle Zusammenstellung oder Zusammenfügung“ (S. 74) der unterschiedlichen Wissensbestände mit ihren jeweils spezifischen Perspektiven sollten diese zugleich auch ein Stück weit angenähert werden. Dieses Verfahren bezeichnet Bennemann als „Aperspektivierung“.

Zwischen der Mitte der 1840er-Jahre und 1861 etablierte sich das Verfahren gemeinsamer Flussbefahrungen durch Techniker, um durch Augenschein und Aushandlung vor Ort Kompromisse bei der Beräumung von physischen Hindernissen sowie konkrete Verbesserungsmaßnahmen für die Flussschifffahrt zu erzielen. Aus dieser Praxis heraus entstand eine „epistemische Gemeinschaft“ dieser Spezialisten, deren Zugriff auf den Rhein durch das Ideal einer mechanischen Objektivität geleitet wurde, die subjektive Wahrnehmungsmuster ausschließen sollte.

Trotz dieser Flussbefahrungen durch eine staatenübergreifende Gruppe von Experten, die zunehmend gemeinsame Praktiken etablierten, konnte sich ein allgemeiner, verbindlicher Standard für Flusskarten nicht durchsetzen. Zwar gab es – vor allem durch Preußen in den 1840er-Jahren – Versuche in diese Richtung, aber es setzte sich eine dezentrale Variante durch, in deren Rahmen die Mitgliedsstaaten für ihre Flussabschnitte Karten anfertigten beziehungsweise in begrenzter regionaler Kooperation Karten herstellten, wie im Falle von Baden und Frankreich. Diese letztgenannten Karten, die bereits 1828 entstanden waren, wurden allerdings in der dritten Phase der Etablierung des „Rheinwissens“ zum Vorbild für die Karten der anderen Mitgliedsstaaten, sodass sich in dieser Phase der Standardisierung, die verstärkt ab 1861 einsetzte, schließlich eine gemeinsam geteilte Basis von Standards für Rheinkarten durchsetzen konnte.

Im Endeffekt etablierte sich eine Kartierungspraxis, die in Bezug auf die zwischenstaatliche Kompatibilität der Karten ambivalent war: Einerseits existierten durchaus Unterschiede, die auch sichtbar hervortreten, legt man die Kartenblätter der verschiedenen Kartenwerke aneinander. Andererseits etablierten sich, wie erwähnt, durch die Aushandlungsprozesse sehr wohl Gemeinsamkeiten in Form geteilter Standards. Dieses ambivalente Verhältnis hat Bennemann sehr glücklich im Begriff der „Schnittstelle“, der zugleich Anschlussfähigkeit und Bruch markiert, eingefangen.

Was hier letztlich überwog, gemeinsame Konventionen oder divergierende Einzellösungen, darüber lässt sich sicher streiten, auch angesichts der Tatsache, dass im Untersuchungszeitraum bis zum Schluss sogar die Maßstäbe einzelner Kartenwerke voneinander abwichen. Doch genau dieses Spannungsfeld macht eben den Reiz der Studie aus, die Elemente der Geschichte internationaler Beziehungen mit der Analyse staatlicher Gestaltung von Infrastruktur ⎼ als welche die ZKR den Rhein vornehmlich wahrnahm ⎼ verbindet und diese als eine Wissensgeschichte der Genese und Entwicklung von Stromkarten erzählt.

Indem Bennemann auf einer reichen Quellengrundlage die Geschichte dieser internationalen Kartierung darstellt, arbeitet er auch die verschiedenartigen politischen Motive hinter den Aushandlungsprozessen heraus, die stets im Spannungsfeld von nationalstaatlicher Autonomie und Kooperation sowie von wirtschaftlicher Pragmatik und wissenschaftlicher Präzision standen. Auch zeigen sich so die Wechselwirkungen zwischen der ZKR als internationaler Kommission und einzelnen nationalstaatlichen Wasserbaubehörden. So kann Bennemann etwa zeigen, dass das Wissensregime vom „Rheinwissen“ direkt in die jeweiligen staatlichen Wasserbauverwaltungen hineinwirkte.

Durch den präzisen Nachvollzug dieser Aushandlungsprozesse auf zwischenstaatlicher, interministerieller wie zwischenbehördlicher Ebene, durch die Wissen gleichzeitig zirkulierte, sich transformierte und über die Dekaden verfestigte, gelingt es Bennemann, Macht- und Wissensverhältnisse internationaler Organisationen an einem konkreten Beispiel facettenreich auszuleuchten.

Dies ist auch insofern spannend, als dass wir den für die Moderne typischen Vorgang, aus einem komplexen, hoch-dynamischen Geschehen wie dem Rhein einen handhabbaren Gegenstand mit gesicherten Eigenschaften zu machen beziehungsweise machen zu wollen, en détail beobachten können. Bennemann zeigt überzeugend und anschaulich, wie dieses Unterfangen im Aushandlungsprozess zwischen Staaten und Behörden gelöst wurde und dass Karten hierbei eine eminent wichtige Funktion zukam. Obwohl es ihm in erster Linie darum geht, wie Verfahren zur Gewinnung von „Rheinwissen“ standardisiert wurden, kommen auch Historiker:innen aus der Umwelt- oder Infrastrukturgeschichte auf ihre Kosten, da – wenn auch ein wenig verstreut – immer wieder Zusammenhänge zwischen Flusskarten, Wasserbau, Hochwasserschutz und Meliorationsmaßnahmen in den Blick genommen werden.

Anmerkung:
1 Lorraine Daston / Peter Galison, Objectivity, New York 2010.

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